Mission Molokai, die ersten vier Kapitel

Soeben ist Mission Molokai, der 3. Leo-Rivenhall-Thriller, erschienen.

Für diejenigen, die schnell mal in das Buch hineinschnuppern möchten, hier der Anfang:

1

Leo Rivenhall betrachtete vom Beifahrersitz aus zufrieden seine Umgebung. Endlich führte ihn die Arbeit für den Geheimdienst mal in einen Teil der Welt, den man ohne Übertreibung als paradiesisch bezeichnen konnte. Das wurde auch langsam Zeit nach Gegenden wie Belarus, den Arabischen Emiraten und dem wilden Nordwesten von Pakistan.

In Hawaii wirkte alles so lebendig und strahlend. Das Grün der Vegetation war frisch und kraftvoll, das Blau von Himmel und Meer klar und intensiv. Sehnsüchtig schaute Leo durch das Fenster des Chevrolets auf die Landschaft. Auf der einen Seite ragten bewaldete Berge vulkanischen Ursprungs steil auf, auf der anderen lockte die endlose Weite des Pazifischen Ozeans.

Es waren Bilder wie aus einem Urlaubsprospekt der Luxusklasse. Zugegeben, was er im Vorbeifahren von Honolulu gesehen hatte, besaß teilweise etwas unangenehm Künstliches, irgendwie Billiges. Aber er wollte nicht zynisch sein und seinen Aufenthalt so weit wie möglich genießen.

Doch so erfreulich das alles auch war, es nützte nichts. Er musste sich mit der aktuellen Situation beschäftigen. Er war schließlich nicht zum Vergnügen hier. Jedenfalls nicht nur.

Also riss er sich von den atemberaubenden Aussichten, die das Inselparadies auf beiden Seiten der Straße bot, los und wandte sich Special Agent Joseph Toogood zu, der neben ihm saß und seinen Dienstwagen ruhig durch den trägen sonntäglichen Verkehr lenkte. Vor nicht einmal einer Stunde hatte er Leo am Daniel K. Inouye International Airport nahe Honolulu abgeholt.

Joseph Toogood. Ob Leo sich wohl jemals an den Namen gewöhnen würde?

Leo sollte in Hawaii für den MI6 „einen kleinen, einfachen Auftrag“ erledigen. So hatte es die Chefin des britischen Auslandsgeheimdiensts formuliert. Genauer gesagt sollte er dem Special Agent dabei helfen, einen Verräter in der FBI-Außenstelle in Honolulu ausfindig zu machen. Jemanden, der mutmaßlich für den chinesischen Geheimdienst arbeitete.

Joseph Toogood, der stellvertretende Leiter des FBI-Büros in Honolulu, kannte die Chefin des MI6 irgendwie und hatte sie um Hilfe gebeten, weil er nicht wusste, wem von seinen Kolleginnen und Kollegen in der Behörde er trauen konnte.

Die Leiterin des Geheimdiensts wurde von allen nur „die Baroness“ genannt. Weil sie eine war und weil es ihrer imposanten Erscheinung entsprach. Sie hatte sich nicht lange bitten lassen und umgehend ihren „besten Mann“ nach Hawaii geschickt, wie sie Leo augenzwinkernd erklärte, als sie ihm den Auftrag erteilte.

Josephs FBI-Kollegen gegenüber wollten sie Leos Anwesenheit damit verkaufen, dass er zwei Seminare über „human hacking“ unterrichten würde. Etwas, wovon er, zugegeben, eine Menge verstand.

Doch kaum hatte er den Boden des 50. amerikanischen Bundesstaates betreten, als die ursprünglichen Pläne über den Haufen geworfen wurden.

„Nur damit ich es richtig verstehe“, sagte Leo jetzt. Er sprach langsam, denn es fiel ihm schwer, gegen seine Urlaubsstimmung anzukämpfen.

Wollte er das überhaupt?

Doch. Schließlich wollte er den MI6 nicht verärgern und noch viel weniger dessen neue Chefin.

„Also“, setzte Leo erneut an. „Nur, damit ich das richtig verstehe. Es klang etwas kompliziert, als du es vorhin erklärt hast. Du fährst mich jetzt nicht wie geplant zum Hotel, sondern möchtest stattdessen gewisse Nachforschungen anstellen, von denen deine Kollegen nichts wissen sollen, weil sich unter ihnen ein Maulwurf befindet.“

Joseph nickte.

„Und dass du dich heute Nachmittag um mich kümmerst“, fuhr Leo fort, „ist ein guter Vorwand, um geheim zu halten, dass du mit einer Zeugin sprechen willst.“

„Korrekt“, antwortete Leos Begleiter.

„Diese Zeugin, zu der wir unterwegs sind, glaubt nicht, dass ihr Chef von einer Klippe gesprungen und nun tot ist?“, fragte Leo weiter.

„Korrekt. Was würdest du glauben, wenn ein Experte spurlos verschwindet, der eine neue Methode entwickelt hat, wie man Mikrochips auf einfachere Art herstellen kann?“, entgegnete Joseph. „Und zwar hochkomplexe Mikrochips, wie man sie für die künstliche Intelligenz braucht. Also keine gewöhnlichen, wie sie in Mikrowellen, Autos oder was weiß ich verbaut sind.“

„Eine Art von Mikrochips“, griff Leo den Faden auf, „auf die zum Beispiel die Chinesen superheiß sind. Und die sie zurzeit nicht bekommen können, weil die USA das verhindern.“

„Was wir können, weil nur ganz wenige Firmen an der Herstellung dieser speziellen Chips beteiligt sind.“

Die Chinesen, für die auch der mutmaßliche Verräter in eurem Haus arbeitet.“ Er verstand, warum Joseph sich in einer Zwickmühle befand.

„Daran ist nichts Mutmaßliches“, korrigierte der FBI-Agent, der es offensichtlich sehr genau nahm. „Ich weiß nur nicht, wer es ist. Leider.“

„Und die hiesige Polizei bewertet das Verschwinden des Experten wie?“, kam Leo auf das ursprüngliche Thema zurück. Er wollte alle Fakten kennen. Außerdem konnte er sich hoffentlich ein besseres Bild von Joseph Toogood machen, wenn er dessen Gedankengänge verstand.

Sein vorläufiger Eindruck von dem Mann war … zwiespältig. Joseph Toogood wirkte wie Ende 50, war mittelgroß und hager und auf den ersten Blick durchtrainiert wie ein Langläufer. Was bei einem Mann seines Alters ein gutes Zeichen war.

Des Weiteren schien er ein Agent alter Schule zu sein, zurückhaltend und korrekt. Dafür sprachen sein militärisch kurzer Haarschnitt, der irgendwie schlammfarben graubraune Chevy Impala, den er sich als Dienstwagen ausgesucht hatte, und dass er sich strikt ans Tempolimit hielt. Der stärkste Hinweis war jedoch die Tatsache, dass er trotz der milden Außentemperatur und ausgerechnet in Hawaii einen Anzug anhatte, samt weißem Hemd und dezent gemusterter Krawatte.

Leo selbst trug ebenfalls Hose und Jackett, beides jedoch aus luftigem Leinen und Einzelteile, die zwar gut zusammenpassten, aber zwangloser wirkten als ein Anzug. Der Kragen seines eierschalenfarbenen Hemdes war offen, was bei den selbst im Spätherbst milden Temperaturen auf der Insel angenehmer war. Und was außerdem besser aussah. Von einem Schlips keine Spur.

„Die Polizei“, griff der andere Leos Frage auf, „gibt sich mit Selbstmord als Erklärung zufrieden. Man hat oben am Rand der Klippe seine Jacke mit seinen Papieren und seine Schuhe gefunden. Deshalb hat sich die junge Frau, die wir jetzt aufsuchen, an das FBI gewendet und der Vorgang ist auf meinem Schreibtisch gelandet.“

Diese „Zeugin“, wie der FBI-Agent sie bezeichnete, schien ganz schön hartnäckig zu sein. Das machte Leo neugierig.

Unterdessen fuhr Joseph Toogood fort: „Ich bin in unserer Außenstelle hier auf Oʻahu für die Gegenspionage zuständig, leite also die entsprechende Abteilung. Und wenn es keine Leiche gibt und sich jemand von diesem Kaliber einfach in Luft auflöst, macht mich das misstrauisch.“

„Nehmen wir einmal an, er ist tatsächlich nicht tot. Er könnte freiwillig untergetaucht sein“, spielte Leo den Advocatus Diaboli. „Vielleicht will er sich absetzen und die Erfindung ungestört versilbern.“

„Nichts, was ich über ihn gehört habe, spricht dafür. Aber selbst wenn, wäre es auch dann wichtig, ihn aufzuspüren, damit diese neuartige Herstellungsmethode nicht in falsche Hände gerät. Und deshalb möchte ich mit seiner wichtigsten Mitarbeiterin sprechen. Persönlich. Ich habe bisher nur heute Morgen kurz von meinem Handy aus mit ihr telefoniert, um diesen Termin auszumachen.“

Dass der andere mit ihr nicht im möglicherweise unterwanderten FBI-Büro sprechen wollte, war verständlich.

Leo zuckte die Schultern, um zu signalisieren, dass er sich mit den Erklärungen zufrieden gab. „Okay.“

Dass Joseph ihm so unbesehen zu vertrauen schien, sprach dafür, dass er sich einerseits in einer ziemlichen Zwangslage befand und dass er und Leos neue Chefin andererseits offenbar sehr gute Bekannte waren.

„Ich hoffe, unser kleiner Ausflug zum Norden der Insel ist nicht zu anstrengend für dich nach dem langen, möglicherweise strapaziösen Flug?“, erkundigte Joseph sich nun höflich. Und etwas spät, also wohl eher der Form halber, denn sie hatten Honolulu längst hinter sich gelassen.

Leo war am frühen Morgen in Miami gestartet und nach 13 Stunden gegen ein Uhr mittags Ortszeit in Honolulu eingetroffen. In Fort Worth/Dallas musste er umsteigen. Leider gab es keine Direktflüge. Aber in der ersten Klasse ließ sich das alles halbwegs ertragen. Anders flog er nur, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, und das respektierte man beim MI6. Ein paar tausend Dollar waren schließlich nur Peanuts in deren Gesamtbudget.

Er hatte nichts dagegen, statt sein Hotelzimmer aufzusuchen, zuerst etwas von Oahu zu sehen, der Insel, auf der sie sich befanden. Die Sonne schien, Hawaii zeigte sich von seiner besten Seite, der Fall klang interessant und was der andere sagte, war nicht unplausibel.

„Kein Problem“, antwortete er deshalb.

„Danke“, sagte Joseph. „Das meine ich ehrlich.“

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Ich bin selbst gespannt auf Noelani Mahelona. Sie scheint eine energische junge Dame zu sein. Und nicht zu Hysterie zu neigen. Was man bei einer Ingenieurin vermutlich auch erwarten würde.“

Er schaute ganz kurz zu Leo hinüber. „Ich bin auch an deiner Einschätzung interessiert. Menschen und ihre Psychologie sind offenbar deine Spezialität. Clarissa hat dich jedenfalls in den höchsten Tönen gelobt.“

Interessant.

Dass Joseph die Baroness mit ihrem Vornamen anredete.

Und dass diese viel von Leo hielt, war auch gut zu wissen.

Unwillkürlich wanderte sein Blick von Joseph zu der Aussicht, dann zur Decke des Chevys und wieder zurück auf die Landschaft.

Er seufzte innerlich.

Wie viel lieber würde er diese Strecke in einem schnittigen Cabrio und bei offenem Verdeck genießen. Vielleicht ließe sich das in den nächsten Tagen noch nachholen. Wenn er seinen Auftrag richtig verstanden hatte, sollte der sich einigermaßen schnell erledigen lassen.

Wie schwierig konnte es sein, einen Verräter aufzuspüren?

Er machte das schließlich nicht zum ersten Mal. Und die menschliche Psyche war, wie es schien, nach einhelliger Meinung so etwas wie seine Spezialität.

In diesem Moment bog Joseph in eine schmalere Straße ein, die ins Landesinnere führte und weniger stark befahren war. „Eine Abkürzung“, erklärte er.

Ob es noch weit war bis zu ihrem Ziel? Bei dem es sich um einen Park oder so etwas handelte, wenn Leo den anderen richtig verstanden hatte.

„Joe …”, setzte er an. „Ich kann dich doch Joe nennen?“

„Nein. So nennen mich nur meine Freunde.“ Er wollte anscheinend noch etwas hinzufügen. Vielleicht um seiner Antwort die Schärfe zu nehmen.

Doch stattdessen stieß er aus: „Was soll das denn?!“

Im selben Moment raste ein weißer Kastenwagen an ihnen vorbei.

Sehr schnell und mit ziemlich wenig Abstand.

Der Wagen setzte sich in einem waghalsigen Manöver vor sie, weil sie auf eine unübersichtliche Kurve zusteuerten.

Joseph trat auf die Bremse.

„Fu…dge“, stieß er hervor.

„Der hat es aber ganz schön eilig“, kommentierte Leo. Ihm war nicht ganz wohl beim Anblick des Wagens.

Aber warum?

 

2

Joseph Toogood fuhr langsam durch die Kurve und sah dann dem Transporter, der sie geschnitten hatte, mit gerunzelter Stirn hinterher.

„Du willst dich ja jetzt wohl nicht um einen Schnellfahrer kümmern?“, fragte Leo.

Der andere schaute unverwandt nach vorn auf die zweispurige Straße, wie es Vorschrift war. Der Mann war tatsächlich jemand, der stur jegliche Regeln einhielt. So viel hatte Leo bereits gelernt, obwohl sie sich erst seit wenigen Stunden kannten.

„Verkehrsregeln durchzusetzen, dafür ist das FBI ja wohl kaum zuständig“, fuhr Leo fort. Außerdem hatten sie Wichtigeres zu tun, wenn er Joseph glauben wollte.

Der andere schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte er zögernd, „es ist nur…“

Okay. Vielleicht hatte Joseph doch mehr auf dem Kasten, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte.

„Stimmt. Es ist merkwürdig, dass hier noch jemand unterwegs ist und auch noch so schnell“, fiel Leo ihm ins Wort, weil der andere für seinen Geschmack zu langsam und bedächtig sprach.

Das andere Fahrzeug war inzwischen aus ihrem Blickfeld verschwunden.

„Eben. Die Gegend hier ist an sich ziemlich verlassen.“ Pause. „Hast du dir die letzten beiden Ziffern des Kennzeichens merken können? “

Joseph fischte einen Bluetooth-Ohrstöpsel aus seiner Jackentasche und schob ihn sich ins Ohr. Sein Handy steckte in einer Halterung am Armaturenbrett. Er tippte eine Kurzwahltaste.

„68“, beantwortete Leo die Frage. Sich solche Dinge zu merken, ging bei ihm ganz automatisch. Er hätte Joseph auch das gesamte Kennzeichen nennen können.

Der nickte zustimmend. Er hatte wohl nur sozusagen auf Nummer sicher gehen wollen. Oder er wollte Leo unauffällig testen.

Jemand musste sich am anderen Ende gemeldet haben, denn Joseph identifizierte sich als FBI-Agent und bat um eine Halterüberprüfung für einen weißen Ford-Kleintransporter der E-Serie mit dem Kennzeichen, das er anschließend fehlerfrei durchgab.

„Das war eine Kontaktperson im HPD, der Polizeibehörde von Honolulu“, erklärte er Leo, nachdem er das Gespräch beendet hatte.

Den Stöpsel ließ er im Ohr. Er erwartete wohl, dass die Polizeidienststelle schnell mit der gewünschten Information zurückrufen würde.

In diesem Moment wurde Leo erst so richtig bewusst, dass er zum ersten Mal in seinem Leben eng mit der Polizei zusammenarbeiten würde. Für jemanden wie ihn, der sich „hauptberuflich“ als Betrüger betätigte, war das ein unangenehmes Gefühl.

Für Geheimdienste wie den MI6, für den er ab und an, so wie jetzt, freiberuflich arbeitete, galt das nicht, denn sie bewegten sich oft selbst am Rande der Legalität. Oder sogar außerhalb davon.

Natürlich erfüllte das FBI auch Geheimdienst-Funktionen in den USA, nämlich die der Spionageabwehr. Und doch war das etwas anderes. Man musste sich nur Joseph Toogood anschauen. Schwer vorstellbar, dass der sich nicht an Recht und Gesetz halten würde.

War dieser Auftrag irgendeine Art von Test, mit dem die neue Chefin des MI6 ihm, dem aus offizieller Sicht Kriminellen, auf den Zahn fühlen wollte?

Genau da meldete sich sein spezielles, abhörsicheres Handy. Wenn man vom Teufel sprach beziehungsweise an die Teufelin dachte.

Doch Leo lehnte den Anruf mit einem Knopfdruck ab. Jetzt war keine Zeit für eine Plauderei mit der Baroness.

 

3

Leos neuestes Abenteuer hatte harmlos genug angefangen.

„Ich habe einen kleinen Auftrag für dich, mein Lieber“, hatte die neue Chefin des MI6 gesagt.

Baroness Clarissa Hall of Dingham hatte ihr neues Amt vor nicht allzu langer Zeit angetreten, nachdem ihr Vorgänger ganz plötzlich seinen Hut nehmen musste. Etwas, woran Leo nicht ganz unbeteiligt gewesen war.

„Im Grunde ist es beinahe ein Urlaub“, fuhr sie fort.

„Und wo soll ich diesen ‚Urlaub‘ verbringen?“, fragte Leo misstrauisch.

Die Baroness hatte ihn in Miami erreicht, einem seiner bevorzugten Aufenthaltsorte.

Speziell in der dunklen Jahreszeit, wie jetzt im November, war er lieber irgendwo, wo die Sonne schien.

„Hawaii“, antwortete sie, wobei ihre Augen amüsiert glitzerten.

Das konnte Leo sehen, weil sie ihr Gespräch über eine Video-Verbindung führten. Die natürlich verschlüsselt war, wie bei einem Geheimdienst wie dem MI6 nicht anders zu erwarten.

Leo saß dabei in seinem komfortablen Hotelzimmer. Die Baroness dagegen hielt sich, nach dem zu urteilen, was Leo auf dem Bildausschnitt sehen konnte, zu Hause auf. Oder zumindest nicht in ihrem Büro im Gebäude des MI6.

Das ergab Sinn. Schließlich war es in Miami kurz vor zehn Uhr am Samstagmorgen. Also früher Samstagnachmittag in London. Wobei Leo auffiel, dass er keine Ahnung hatte, wo und wie die Baroness wohnte. Etwas, das er bald einmal ändern sollte. Denn er wusste gerne über die Menschen Bescheid, mit denen er zu tun hatte.

Seine Neugier war geweckt. Doch als habe sie das geahnt, hatte seine neue Chefin sich so dicht vor der Kamera platziert, dass ihr Gesicht fast den gesamten Bildschirm ausfüllte.

Hinter ihr glaubte er, gediegene, gut bestückte Bücherregale zu sehen. Aber vielleicht war das auch nur ein virtueller Hintergrund. Zuzutrauen wäre es ihr.

Was hatte sie gesagt? Hawaii? Das war in der Tat durchaus akzeptabel.

Sie musste Zustimmung in seinen Augen gelesen haben, denn sie fuhr fort: „Habe ich mir gedacht, dass dir das gefällt. Es ist nichts Kompliziertes, sondern für den Anfang etwas, das ganz deine Kragenweite sein sollte.“

„Für den Anfang“. Damit wollte sie wohl andeuten, dass dies der erste Auftrag war, den Leo für sie erledigen sollte. Und möglicherweise der letzte?

Wollte sie ihn testen?

Dazu gab es nichts zu sagen. Deshalb wartete er ab und schwieg.

Die Baroness beugte sich ein wenig vor, sodass er ihre neue Frisur noch besser bestaunen konnte. Die altmodische betonartige Dauerwelle, die noch vor Kurzem ihr Erscheinungsbild geprägt hatte, war einem flotten Kurzhaarschnitt gewichen – durchzogen von dezenten blonden Strähnchen und mit Sicherheit sündhaft teuer. Wie es sich für eine Frau gehörte, die die Karriereleiter bis ganz nach oben erklommen hatte.

„Es geht um Folgendes“, sagte sie und sah ihn durch die Kamera eindringlich an. „Du sollst einem guten Bekannten von mir, der in Honolulu für das FBI arbeitet, helfen, einen Verräter zu entlarven, der möglicherweise für die Chinesen spioniert.“

Okayyy?

„Vielleicht täusche ich mich“, sagte Leo langsam. „Aber arbeitet der MI5 als britischer Inlandsgeheimdienst nicht gewöhnlich mit dem FBI zusammen, das unter anderem in etwa dieselbe Rolle in den USA übernimmt? Und der MI6 mit der CIA, weil die beide jeweils im Ausland agieren?“

„Zerbrich dir darüber nicht dein hübsches Köpfchen.“ Ihr Grinsen verriet, dass das ironisch gemeint war. Vielleicht sogar als eine Umkehr althergebrachter Rollenklischees aus Filmen des vorigen Jahrhunderts.

„Die USA sind für uns Ausland. Das passt also. Und wie du ganz richtig sagst, arbeiten unsere Behörden auf vielen Ebenen eng mit unseren amerikanischen Vettern zusammen, sodass es uns nicht egal sein kann, wenn das FBI unterwandert wird. Und Joseph ist ein guter Mann. Ich vertraue ihm.“

Ein hohes und, wie Leo sie einschätzte, seltenes Lob.

„Also, wie sieht es aus? Wie ich höre, ist deine neue Freundin anderweitig beschäftigt. Da ist in deinem Terminkalender vermutlich Platz, oder?“

Letzteres wusste sie höchstwahrscheinlich bereits ganz genau. Leo war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass der MI6 sich so sehr für seine Angelegenheiten interessierte.

Aber es war, wie es war.

Und für den Geheimdienst zu arbeiten, freiberuflich selbstverständlich, verschaffte ihm nicht unerhebliche Vorteile. Selbst einem Betrüger der Meisterklasse konnte es bei aller Vorsicht passieren, dass er in das Fadenkreuz irgendwelcher Gesetzeshüter geriet. Da war es hilfreich, wenn ein auch international einflussreicher Geheimdienst wie der MI6 seine schützende Hand über ihn hielt. Ein weiteres Plus: Hin und wieder fiel ein falscher Pass, beziehungsweise ein echter mit einem falschen Namen, und Ähnliches für Leo ab, das sich in seinem eigentlichen Beruf als nützlich erwies.

Es war ein Spiel mit dem Feuer. Nicht ungefährlich, aber aufregend. Und letztlich für beide Seiten von Vorteil.

Die Baroness hatte außerdem recht. Cori, die neue Frau in Leos Leben – und was für eine –, hatte sich vor Kurzem aufgemacht, um einer Freundin in Russland aus der Patsche zu helfen.

Moskau (bei dem Gedanken fröstelte es ihn regelrecht) oder Hawaii? Es war offensichtlich, wer von ihnen beiden das große Los gezogen hatte. Wobei Cori eine Leo unerklärliche Vorliebe für das größte Land der Welt hatte, das nach seiner Ansicht gleichzeitig eines der trostlosesten war.

„Also gut“, sagte Leo. „Dann mache ich mich mal auf nach Hawaii.“

„Bei Hawaii muss ich immer an Molokai denken“, sagte die Chefin des MI6 träumerisch.

„Eine besonders schöne, wenig touristische Insel. Für hawaiianische Verhältnisse.“ Jetzt klang sie fast wie ein Reiseführer oder ein Werbeprospekt.

Sie lächelte beseelt und vielleicht auch ein wenig ironisch. „Bertie und ich haben dort seinerzeit einige unvergessliche Tage verbracht.“

Bertie, mit vollem Namen Albert Hannover, war der rätselhafte Begleiter der Baroness, der immer in ihrer Nähe zu sein schien, wenn Leo sie sah. Wie ein persönlicher Assistent. Und ein Mann, mit dem sie offensichtlich auch privat so einiges verband.

Leo hatte vor Kurzem selbst miterlebt, dass dieser Bertie ein absolut ausgeschlafener Typ war. Trotz seines Alters oder gerade deswegen verfügte er über jede Menge Kenntnisse, zum Beispiel im Hinblick auf den Umgang mit Sprengstoff.

Zeit, das Gespräch zu seinem Auftrag zurückzubringen. „Aber ich begebe mich nach Oahu, oder?“

Hatte sie nicht von Honolulu gesprochen? Das befand sich das letzte Mal, als Leo in Hawaii war, auf dieser Insel, auf der auch mit Abstand die meisten Menschen wohnten.

Die Baroness zog die Augenbrauen hoch. „Hatte ich das nicht bereits gesagt? Zur dortigen FBI-Außenstelle. Mein Freund Joseph Toogood ist der stellvertretende Leiter.“

Sie musste gesehen haben, wie Leos Mundwinkel bei der Erwähnung des Nachnamens gezuckt hatte. „Und er kennt bereits alle Witze über seinen Namen, wie er mir schon vor Jahren versichert hat.“

„Zurück zu Molokai.“ Offensichtlich wollte sie Leo klarmachen, dass sie es war, die bestimmte, wann sie worüber sprachen.

„Das nichts mit deinem Auftrag zu tun hat. Aber ich bin die Chefin in diesem Laden und kann folglich bestimmen, wie wir unsere Missionen bezeichnen.“

Sie lächelte maliziös. „Und diese bekommt hiermit den Namen Molokai.“

Es sollte anscheinend wie ein spontaner Gedanke wirken. Doch das verfing bei Leo nicht. Was auch immer diese Frau sagte oder tat, sie hatte es sich gut überlegt.

„Mission Molokai. Roger“, bestätigte Leo.

Ihm war das letztlich egal, denn er käme wohl nicht in die Verlegenheit, die Bezeichnung der Mission verwenden zu müssen. Durch seine inoffizielle Rolle blieb er zum Glück davon verschont, irgendwelche Berichte schreiben zu müssen.

Und hier war er nun.

Auf Oahu.

Mit Joseph Toogood.

 

4

„Gestohlen?“, fragte Joseph die Person, die ihn gerade zurückgerufen hatte.

Das Wort riss Leo aus seinen Gedanken.

Wie sich herausstellte, war der Transporter, der kurz zuvor an ihnen vorbeigerast war, am Morgen als gestohlen gemeldet worden.

„Das gefällt mir nicht“, sagte Leo.

Der andere schaute ihn fragend an. „Um Geschwindigkeitssünder soll ich mich nicht kümmern, aber ein gestohlenes Auto bereitet dir Sorgen?“

„Wo könnten sie hier denn hinwollen mit einem gestohlenen Wagen? Wir befinden uns schließlich auf einer Insel und weiter nach Norden kommt doch kein größerer Ort mehr.“

„Vielleicht sind es Jugendliche, die eine Spritztour machen.“

„Vielleicht“, wiederholte Leo zweifelnd.

„Aber du glaubst, dass jemand den Wagen gestohlen hat, weil sich die eigene Identität so leichter verschleiern lässt, als wenn man ein Auto mietet?“

„Genau. Warum haben es diese Typen so eilig? Du solltest lieber Gas geben.”

„Hier sind nur 50 Meilen pro Stunde erlaubt“, erwiderte Joseph. Doch er wirkte nun ebenfalls besorgt.

Unwillkürlich gab Leo mit dem rechten Fuß Gas oder versuchte es zumindest. Denn er war ja nur der Beifahrer. „Vielleicht sollten wir uns trotzdem etwas beeilen“, presste er zwischen den Zähnen hervor.

„Es ist niemandem gedient, wenn wir im Straßengraben landen“, entgegnete der andere.

„Ich hätte erwartet, dass man beim FBI Autofahren lernt.“

Der MI6 hatte selbst Leo, der nur ab und an für den Geheimdienst tätig war, auf dessen Wunsch hin in allem Möglichen ausgebildet. Im Umgang mit Schusswaffen, im Fliegen von Hubschraubern und kleineren Flugzeugen und auch in speziellen Fahrtechniken. Ein weiterer Bonus seiner Tätigkeit im Dienste des Vaterlandes.

Verdammt! Special Agent Joseph Toogood fuhr so altväterlich, wie er aussah.

„Was, wenn die Typen auf dem Weg zu deiner Zeugin sind? Du hast es immerhin sehr eilig, mit ihr zu sprechen. An einem Sonntag. Und obwohl dein Chef es verboten hat. Wie du mir selbst gesagt hast.“

„Nicht verboten. Er wollte nur nicht, dass ich weiter ermittle. Weil der Fall seiner Meinung nach klar ist.“

„Das kommt doch auf dasselbe raus.“

„Dass sie Frau Mahelona etwas antun wollen, ist ja wohl mehr als unwahrscheinlich.“

Dass er „antun“ sagte, was Leo so explizit nicht ausgesprochen hatte, verriet, dass Joseph nun ebenfalls beunruhigt war. Ebenso wie die Tatsache, dass er die erlaubte Geschwindigkeit voll ausreizte. Selbst, so weit möglich, in den Kurven. Das Fahrmanöver, mit dem er in diesem Moment einen Mopedfahrer überholte, war auch nicht gerade defensiv.

„Unwahrscheinlich? Glaubst du wirklich? Schon mal was von Murphy’s Law gehört?“

„Sicher. Es bedeutet: …“, begann Joseph.

„Sh…oot“, sagte er und trat aufs Gaspedal. Das winzige Zögern, mit dem der andere den Fluch stoppte und durch ein harmloses Wort ersetzte, wäre den meisten wohl nicht aufgefallen. Leo schon.

Weil er sofort nach Hawaii geflogen war, konnte er keine eigenen Nachforschungen anstellen und wusste über Joseph Toogood nur, was die Baroness ihm über den Mann erzählt hatte. Das war nicht viel, aber doch aufschlussreich.

„Ach ja, eines solltest du noch wissen. Joseph ist praktizierender Mormone“, hatte die Baroness ergänzt, nachdem sie Leo seinen Auftrag erteilt hatte.

Das erklärte wohl den eines erwachsenen Mannes normalerweise unwürdigen Versuch, einen Fluch zu vermeiden, indem er in letzter Sekunde von „Shit“ zu „Shoot“ umschwenkte. Oder wie vor einigen Minuten von „Fuck“ zu „Fudge“.

„Wie weit ist es noch?“, fragte Leo beunruhigt.

„Bis zum botanischen Garten? Keine fünf Minuten.“

Die Worte „botanischer Garten“ weckten in Leo schlimme Vorahnungen.

Aber nein. Genau genommen waren es keine Vorahnungen, sondern vielmehr eine Erinnerung an etwas, das vor nicht allzu langer Zeit in einem anderen botanischen Garten so furchtbar schiefgegangen war.

Leo wusste natürlich, dass seine gefühlsmäßige Reaktion in der jetzigen Situation unbegründet war.

Trotzdem fiel es ihm schwer, sie zu unterdrücken.

Und dann war da noch Murphy‘s Law: Anything that can go wrong will go wrong.

Er hatte ja noch nicht einmal damit begonnen, seinen Auftrag in Angriff zu nehmen.

Da hoffte er wirklich, dass nicht alles, was schieflaufen könnte, das auch tun würde.

***

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