Das Geheimnis des toten Fischhändlers

Ein Kommissar-Kolm-Kurzkrimi

„Ich liebe diesen Geruch. Sie nicht auch Kästing?“ Hauptkommissar Gernot Kolm strahlte über das ganze Gesicht, als er sich zu seinem Assistenten umwandte.

„Eine Mischung aus Fisch und Verwesung?“, gab dieser trocken zurück.

„Ich bitte Sie, Kästing. Bei Rudi ist alles frisch. Sogar seine Leiche.“ Kolm betrachtete bedauernd den Toten und schwieg pietätvoll. Dann runzelte er die Stirn. „Wo war ich?“

„Fischgeruch.“

„Genau. Schauen Sie nur. Frischer Matjes. Es gibt nichts Besseres. Heute bekommt man ihn im Prinzip das ganze Jahr. Aber da bin ich konservativ. Matjes isst man im Juni, wenn er gefangen wird, und nicht, wann man will. Auch wenn das durchs Einfrieren inzwischen möglich ist. Heute Abend sollte Rudi die erste Lieferung des Jahres bekommen. Er hat mich ganz kurzfristig angerufen, weil er wusste, wie verrückt ich nach Matjes bin.“

Kolm zog einen Fisch aus einem der kniehohen Fässer, legte den Kopf in den Nacken und mit zwei schnellen Bissen hatte er den Matjes verspeist – völlig unbeeindruckt davon, dass ihn im Hinterraum von Rudis Fischgeschäft von der Ärztin bis zu den Leuten von der Spurensicherung alle anstarrten.

„Aber Chef“, stieß Kästing hervor.

„Sie haben Recht, Kästing. Wie unhöflich von mir. Hier, nehmen Sie auch einen. Der beste Matjes in ganz Köln.“ Kolm schob seinem Assistenten das Fass hin, das randvoll war mit silbern glänzenden Fischleibern.

Kästing schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Ist mir zu salzig.“

„Dieser nicht. Den lässt Rudi extra aus Holland kommen.“

Kästing konnte sich nicht länger beherrschen: „Das ist Vernichtung von Beweismitteln. Das ist Diebstahl. Das ist einfach eklig.“

„Es ist doch nur ein Doppelfilet mit Schwanzflosse, Kästing. Aber genauso isst man auch den ganzen Fisch. Rudi kauft davon immer extra ein Fässchen – für die Kenner. Hat noch mehr Schmelz. Der ganze Matjes, nicht das Fässchen.“

Er hob einen Deckel an. „Da haben wir sie ja. Gibt es etwas Schöneres? Man nennt Matjes auch Silber der Meere …“

„Was ist das?“ Kästing deutete auf etwas Glänzendes.

Vorsichtig zog Kolm es mit seiner behandschuhten Hand heraus. „Ein Stückchen Alufolie. Na so was. Was hat die denn hier zu suchen?“

Er gab seinen Fund einer Mitarbeiterin der Spurensicherung und fuhr fort: „Wenn ich bedenke, dass ich vor eineinhalb Stunden Feierabend gemacht habe und dann nichts ahnend in den Laden spaziert bin. Und als ich Rudi dann gefunden habe, hier im Hinterraum …“

Doch Kästing beschäftigte etwas anderes: „Ein Glück, dass Sie gleichzeitig mit der Frau des Opfers angekommen sind. Da konnte sich gleich jemand um die Arme kümmern.“

„Eigentlich sind wir an einer Ecke ein paar Querstraßen von hier geradezu zusammengestoßen und dann gemeinsam weitergegangen“, widersprach Kolm. „Aber ansonsten haben Sie Recht. War kein schöner Anblick. Mit dem Feuerlöscher eins über den Kopf und mit der Stirn auf die metallene Schwelle des Kühlraums geschlagen. Sieht aus wie Tötung im Affekt. Stimmt’s, Doc?“

Die Ärztin zuckte die Schultern. „Ja zu Feuerlöscher und Schwelle. Ob Affekt, das geben meine Untersuchungen nicht her. Das ist Ihr Metier.“

„Zum Glück. Wenn die Frau Doktor auch noch Motive und Täter liefern könnte, wären wir arbeitslos, was Kästing? Wenn man bedenkt, dass ich sogar gehört habe, wie der Kerl sich durch die Hintertür davon gemacht hat. – Jedenfalls glaube ich, es war ein Kerl. Gesehen habe ich ja nichts.“

Kolm winkte den Fotografen heran. „Carl. Mach mal ein paar Detailaufnahmen von den Spuren. Hier, sehen Sie, Kästing. Der Kerl hatte ziemlich schmutzige Schuhe. Kein Wunder, bei dem Matschwetter. Überall Abdrücke – und darunter und daneben die Blutspritzer. Hier ist noch etwas.“ Kolm ging in die Knie und schnüffelte. „Riecht wie die Lake vom Matjes. Interessant.“

Er richtete sich wieder auf. „Ich denke, wir haben genug gesehen.“ Genüsslich ließ er ein weiteres Matjesfilet in seinen Mund gleiten. „Was wir jetzt brauchen, ist ein eiskalter Genever. Gehen wir rüber in die Kneipe. Da habe ich auch Rudis Frau Renate hingeschickt mit einer Beamtin, damit sie einen Schnaps trinkt. Also Renate, die Kollegin kriegt keinen Schnaps. Ich schon, denn ich habe eigentlich Feierabend.“

Renate Roth, Rudis Witwe, saß mit einer Beamtin in Zivil in einer Ecke des Lokals. Sie waren durch eine Reihe von Grünpflanzen vor neugierigen Blicken geschützt und hatten jede eine Tasse Cappuccino vor sich stehen.

Kolm kam gleich zur Sache: „Wir haben Fußabdrücke gefunden. Könnten sie von demjenigen stammen, der die Matjes gebracht hat? Wie heißt der Mitarbeiter noch?“

„Sven-Kevin Thews.“ Renate Roth sah Kolm aus verweinten Augen an. „Sven-Kevin arbeitet jetzt schon gut ein Jahr bei uns. Zum Glück. Wir können nicht viel zahlen und die Arbeit ist anstrengend. Da bleibt keiner länger als nötig. Außer Sven-Kevin.“

Ein Blick verriet Kolm, dass Kästing sich unter dem Tisch unauffällig Notizen machte. Kolm nickte. „Gute Mitarbeiter sind wichtig.“ Kästing war bereits aufgestanden und auf dem Weg nach draußen, um zu versuchen, Sven-Kevin per Handy ausfindig zu machen.

„Er hat auch die Fahrten übernommen“, fuhr Rudis Witwe fort. „Der meiste Fisch wird geliefert. Aber den Matjes aus Holland muss Rudi“, sie setzte erneut an, „musste Rudi selbst holen. Er sah nicht mehr so gut, deshalb war er froh, dass Sven-Kevin das gemacht hat.“

„Warum nur sollte jemand Rudi töten?“ Kolm schaute Renate Roth aufmerksam an. „Gab es irgendwelche Probleme?“

Sie schüttelte stumm den Kopf.

„Fehlgeschlagener Raub?“, mutmaßte Kästing, der sich wieder an den Tisch gesetzt hatte.

„So wertvoll ist Matjes auch nicht.“

„Ich meine Geld.“ Kästing verdrehte innerlich die Augen. Manchmal dachte der Chef erschreckend eingleisig. „Die Kasse wurde zwar anscheinend nicht angerührt. Aber Sie haben den Täter ja auch überrascht, Chef.“

„Andererseits ist er aus dem Hinterraum abgehauen und die Kasse ist vorn im Laden.“ Kolm wandte sich wieder Rudis Witwe zu. „Sag’ mal Renate. Ich darf doch Renate sagen?“

Die Frau nickte.

„Sag’ mal Renate. Wie war denn eure Ehe?“

Renate Roth brach in Tränen aus.

„Wir“, sie schluchzte, „wir wollten im nächsten Monat silberne Hochzeit feiern. Ogottogottogott.“

Kolm tätschelte unbeholfen ihre Schulter. „Vorn im Laden lagen ein paar Prospekte für Kreuzfahrten. Wolltet ihr euch eine Reise zur Silberhochzeit gönnen?“

Jetzt strömten die Tränen noch heftiger über das Gesicht der Frau. Die Beamtin reichte ihr neue Papiertaschentücher. Schließlich nickte die Witwe. Ja, sie wollten auf Kreuzfahrt gehen.

Kolm fragte nachdenklich: „Kein Raub? Keine Eifersucht? Was dann?“

Kästing antwortete nicht. Stattdessen lehnte er sich vorsichtig zurück, um einen besseren Blick auf die Theke zu haben. Aufgeregt tippte er Kolm an. Er flüsterte seinem Chef etwas zu und zeigte ihm erst ein Foto auf dem Display seines Handys und deutete dann zum Tresen.

Leise erhoben sich Kolm und Kästing. Als sie die Bar erreichten, sagte Sven-Kevin Thews gerade zum Wirt: „Ich hab einfach mein Handy abgestellt. So können sie mich nicht finden. Klar, morgen melde ich mich bei den Bullen und bin total geschockt. Aber heute will ich erst noch was von dem Stoff verticken. – Was? Was guckst du so komisch?“

Kolm legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Darf ich mich vorstellen: Hauptkommissar Kolm.“ Kästings Hand befand sich auf Sven-Kevins anderer Schulter und gemeinsam mit Kolm drückte er ihn zurück auf den Barhocker.

Kolm rief: „He, Renate. Das ist doch Sven-Kevin, oder? Na also. Kästing, habe ich schon mal meine Theorie erwähnt …“

„Dass der durchschnittliche IQ eines typischen Kriminellen nicht höher ist als seine Schuhgröße?“, unterbrach Kästing seinen Chef. „Ja, so ein- bis zweitausendmal.“

„Also, Sven-Kevin“, Kolm erhöhte den Druck auf die Schulter des Mannes. „Sie haben nicht nur Fisch aus Holland geholt, sondern auch Drogen geschmuggelt. Die Tütchen schön in Alufolie verpackt und unter dem Matjes versteckt. Da haben unsere Drogenhunde natürlich keine Chance.“

„Und als Rudi das gemerkt hat, haben Sie ihn erschlagen“, ergänzte Kästing.

„Da-das war ich nicht.“ Sven-Kevin stotterte vor Aufregung. „Gut, das mit den Drogen stimmt. Ich wollte die Fässchen gerade wegräumen, da habe ich Rudi entdeckt. Aber er war schon tot. Dann kam jemand, ich hab’ mir das Päckchen geschnappt und nichts wie weg.“

„Dumme Ausreden“, fuhr Kästing ihn an.

Aber Kolm widersprach: „Leider nein. Die Spuren am Tatort bestätigen seine Aussage. Die Lake, die von dem Drogenpäckchen auf den Boden getropft ist, und vor allem die Schuhabdrücke, die alle über dem Blut waren. Kein einziger darunter. Das heißt, der Mord ist geschehen, ehe Sven-Kevin den Raum betrat. Nicht wahr, Renate?“

Kolm setzte sich wieder zu der Witwe an den Tisch. Kästing packte Sven-Kevin und folgte seinem Chef. Der fuhr fort: „Als ich dich traf, warst du nicht auf dem Weg zum Geschäft, sondern kamst gerade von dort, nicht wahr?“

Renate Roth seufzte. „Ich habe die Prospekte vom Reisebüro in seinem Schreibtisch gefunden. Und ich dachte tatsächlich, es sollte eine Überraschung zur Silberhochzeit sein. Rudi war manchmal etwas unpraktisch. Deshalb bin ich sicherheitshalber beim Reisebüro vorbeigegangen. Und die Kleine da erzählt mir ganz naiv, dass unter unserem Namen nur eine Reise für eine Person gebucht ist. Eine Weltreise. In zwei Wochen sollte es losgehen. Ich natürlich hin zum Laden und Rudi zur Rede gestellt. Erst hat er rumgedruckst, aber dann hat er gesagt, er wollte aussteigen, die Welt sehen, neu anfangen, ohne mich. Aus und vorbei – und keine Feier zur Silberhochzeit. Wie hätte ich denn dagestanden? Da bin ich ausgerastet und habe mit dem Erstbesten, was ich finden konnte, zugeschlagen – mit dem Feuerlöscher. Rudi fiel, und plötzlich war er tot.“

Sie holte Luft und schaute die beiden Polizisten an – eher ratlos als betroffen.

Nachdem Renate Roth und Sven-Kevin Thews ordnungsgemäß verhaftet worden waren, rieb Hauptkommissar Kolm sich die Hände: „Und wieder ein Fall gelöst.“

Doch dann verdüsterte sich seine Miene: „Bleibt nur eine Frage: Wo bekomme ich von nun an meinen Matjes her?“

Dieser Kurzkrimi ist zuerst in der Anthologie “Matjes – mild bis makaber” (Deich Verlag, Wewelsfleth 2009) erschienen.

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