Der unverhoffte Tod des jungen Rollerfahrers

Ein Kommissar-Kolm-Kürzestkrimi

(Nämlich ein Drabble von genau 100 Wörtern)

Ein Motorradhelm lag auf der verdächtig menschenleeren Straße. Etwas weiter entfernt entdeckte Kolm eine Kokosnuss. Sie musste den Jungen getroffen und ihm den nicht festgeschnallten Helm vom Kopf geschlagen haben. Woraufhin er vermutlich die Kontrolle über seinen Roller verloren hatte und in einer höheren als der zulässigen Geschwindigkeit auf den am Straßenrand geparkten Lastwagen geprallt war.

Der Roller lag halb unter dem Lkw. Den Jungen hatte ein Krankenwagen abgeholt.

„Er hat die Nachbarschaft mit seinem Lärm terrorisiert?“ Kommissar Kolm betrachtete seine Mitarbeiter nachdenklich. „Und jetzt ist er tot?“

Er zuckte die Schultern. „Es spricht wohl nichts gegen einen Unfall. Oder?“

Bei Twitter habe ich erzählt, wie diese Geschichte entstanden ist:

Kreativität—so gut für die seelische Gesundheit 🙂 Während ich auf dem Balkon einen Schreibratgeber lese, nervt ein Junge, der auf seinem kleinen, aber unglaublich lauten Motorroller unten auf der Straße auf und ab fährt. Das Ergebnis? Ein Krimi-Drabble von genau 100 Wörtern 😀

Ergänzung: Ich war in dem betreffenden Moment gerade dabei, in dem Buch “Telling Tales: How to write sensational short stories” von Lynne Barrett-Lee die Passage über Drabble zu lesen 🙂

PS: “Der unverhoffte Tod des jungen Rollerfahrers” ist ja nur eine Fingerübung, mit der ich eine Geschichte in genau 100 Wörtern erzählen wollte.

Einen “richtigen” Kommissar-Kolm-Kurzkrimi könnt ihr hier lesen: Das Geheimnis des toten Fischhändlers.

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Das Geheimnis des toten Fischhändlers

Ein Kommissar-Kolm-Kurzkrimi

„Ich liebe diesen Geruch. Sie nicht auch Kästing?“ Hauptkommissar Gernot Kolm strahlte über das ganze Gesicht, als er sich zu seinem Assistenten umwandte.

„Eine Mischung aus Fisch und Verwesung?“, gab dieser trocken zurück.

„Ich bitte Sie, Kästing. Bei Rudi ist alles frisch. Sogar seine Leiche.“ Kolm betrachtete bedauernd den Toten und schwieg pietätvoll. Dann runzelte er die Stirn. „Wo war ich?“

„Fischgeruch.“

„Genau. Schauen Sie nur. Frischer Matjes. Es gibt nichts Besseres. Heute bekommt man ihn im Prinzip das ganze Jahr. Aber da bin ich konservativ. Matjes isst man im Juni, wenn er gefangen wird, und nicht, wann man will. Auch wenn das durchs Einfrieren inzwischen möglich ist. Heute Abend sollte Rudi die erste Lieferung des Jahres bekommen. Er hat mich ganz kurzfristig angerufen, weil er wusste, wie verrückt ich nach Matjes bin.“

Kolm zog einen Fisch aus einem der kniehohen Fässer, legte den Kopf in den Nacken und mit zwei schnellen Bissen hatte er den Matjes verspeist – völlig unbeeindruckt davon, dass ihn im Hinterraum von Rudis Fischgeschäft von der Ärztin bis zu den Leuten von der Spurensicherung alle anstarrten.

„Aber Chef“, stieß Kästing hervor.

„Sie haben Recht, Kästing. Wie unhöflich von mir. Hier, nehmen Sie auch einen. Der beste Matjes in ganz Köln.“ Kolm schob seinem Assistenten das Fass hin, das randvoll war mit silbern glänzenden Fischleibern.

Kästing schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Ist mir zu salzig.“

„Dieser nicht. Den lässt Rudi extra aus Holland kommen.“

Kästing konnte sich nicht länger beherrschen: „Das ist Vernichtung von Beweismitteln. Das ist Diebstahl. Das ist einfach eklig.“

„Es ist doch nur ein Doppelfilet mit Schwanzflosse, Kästing. Aber genauso isst man auch den ganzen Fisch. Rudi kauft davon immer extra ein Fässchen – für die Kenner. Hat noch mehr Schmelz. Der ganze Matjes, nicht das Fässchen.“

Er hob einen Deckel an. „Da haben wir sie ja. Gibt es etwas Schöneres? Man nennt Matjes auch Silber der Meere …“

„Was ist das?“ Kästing deutete auf etwas Glänzendes.

Vorsichtig zog Kolm es mit seiner behandschuhten Hand heraus. „Ein Stückchen Alufolie. Na so was. Was hat die denn hier zu suchen?“

Er gab seinen Fund einer Mitarbeiterin der Spurensicherung und fuhr fort: „Wenn ich bedenke, dass ich vor eineinhalb Stunden Feierabend gemacht habe und dann nichts ahnend in den Laden spaziert bin. Und als ich Rudi dann gefunden habe, hier im Hinterraum …“

Doch Kästing beschäftigte etwas anderes: „Ein Glück, dass Sie gleichzeitig mit der Frau des Opfers angekommen sind. Da konnte sich gleich jemand um die Arme kümmern.“

„Eigentlich sind wir an einer Ecke ein paar Querstraßen von hier geradezu zusammengestoßen und dann gemeinsam weitergegangen“, widersprach Kolm. „Aber ansonsten haben Sie Recht. War kein schöner Anblick. Mit dem Feuerlöscher eins über den Kopf und mit der Stirn auf die metallene Schwelle des Kühlraums geschlagen. Sieht aus wie Tötung im Affekt. Stimmt’s, Doc?“

Die Ärztin zuckte die Schultern. „Ja zu Feuerlöscher und Schwelle. Ob Affekt, das geben meine Untersuchungen nicht her. Das ist Ihr Metier.“

„Zum Glück. Wenn die Frau Doktor auch noch Motive und Täter liefern könnte, wären wir arbeitslos, was Kästing? Wenn man bedenkt, dass ich sogar gehört habe, wie der Kerl sich durch die Hintertür davon gemacht hat. – Jedenfalls glaube ich, es war ein Kerl. Gesehen habe ich ja nichts.“

Kolm winkte den Fotografen heran. „Carl. Mach mal ein paar Detailaufnahmen von den Spuren. Hier, sehen Sie, Kästing. Der Kerl hatte ziemlich schmutzige Schuhe. Kein Wunder, bei dem Matschwetter. Überall Abdrücke – und darunter und daneben die Blutspritzer. Hier ist noch etwas.“ Kolm ging in die Knie und schnüffelte. „Riecht wie die Lake vom Matjes. Interessant.“

Er richtete sich wieder auf. „Ich denke, wir haben genug gesehen.“ Genüsslich ließ er ein weiteres Matjesfilet in seinen Mund gleiten. „Was wir jetzt brauchen, ist ein eiskalter Genever. Gehen wir rüber in die Kneipe. Da habe ich auch Rudis Frau Renate hingeschickt mit einer Beamtin, damit sie einen Schnaps trinkt. Also Renate, die Kollegin kriegt keinen Schnaps. Ich schon, denn ich habe eigentlich Feierabend.“

Renate Roth, Rudis Witwe, saß mit einer Beamtin in Zivil in einer Ecke des Lokals. Sie waren durch eine Reihe von Grünpflanzen vor neugierigen Blicken geschützt und hatten jede eine Tasse Cappuccino vor sich stehen.

Kolm kam gleich zur Sache: „Wir haben Fußabdrücke gefunden. Könnten sie von demjenigen stammen, der die Matjes gebracht hat? Wie heißt der Mitarbeiter noch?“

„Sven-Kevin Thews.“ Renate Roth sah Kolm aus verweinten Augen an. „Sven-Kevin arbeitet jetzt schon gut ein Jahr bei uns. Zum Glück. Wir können nicht viel zahlen und die Arbeit ist anstrengend. Da bleibt keiner länger als nötig. Außer Sven-Kevin.“

Ein Blick verriet Kolm, dass Kästing sich unter dem Tisch unauffällig Notizen machte. Kolm nickte. „Gute Mitarbeiter sind wichtig.“ Kästing war bereits aufgestanden und auf dem Weg nach draußen, um zu versuchen, Sven-Kevin per Handy ausfindig zu machen.

„Er hat auch die Fahrten übernommen“, fuhr Rudis Witwe fort. „Der meiste Fisch wird geliefert. Aber den Matjes aus Holland muss Rudi“, sie setzte erneut an, „musste Rudi selbst holen. Er sah nicht mehr so gut, deshalb war er froh, dass Sven-Kevin das gemacht hat.“

„Warum nur sollte jemand Rudi töten?“ Kolm schaute Renate Roth aufmerksam an. „Gab es irgendwelche Probleme?“

Sie schüttelte stumm den Kopf.

„Fehlgeschlagener Raub?“, mutmaßte Kästing, der sich wieder an den Tisch gesetzt hatte.

„So wertvoll ist Matjes auch nicht.“

„Ich meine Geld.“ Kästing verdrehte innerlich die Augen. Manchmal dachte der Chef erschreckend eingleisig. „Die Kasse wurde zwar anscheinend nicht angerührt. Aber Sie haben den Täter ja auch überrascht, Chef.“

„Andererseits ist er aus dem Hinterraum abgehauen und die Kasse ist vorn im Laden.“ Kolm wandte sich wieder Rudis Witwe zu. „Sag’ mal Renate. Ich darf doch Renate sagen?“

Die Frau nickte.

„Sag’ mal Renate. Wie war denn eure Ehe?“

Renate Roth brach in Tränen aus.

„Wir“, sie schluchzte, „wir wollten im nächsten Monat silberne Hochzeit feiern. Ogottogottogott.“

Kolm tätschelte unbeholfen ihre Schulter. „Vorn im Laden lagen ein paar Prospekte für Kreuzfahrten. Wolltet ihr euch eine Reise zur Silberhochzeit gönnen?“

Jetzt strömten die Tränen noch heftiger über das Gesicht der Frau. Die Beamtin reichte ihr neue Papiertaschentücher. Schließlich nickte die Witwe. Ja, sie wollten auf Kreuzfahrt gehen.

Kolm fragte nachdenklich: „Kein Raub? Keine Eifersucht? Was dann?“

Kästing antwortete nicht. Stattdessen lehnte er sich vorsichtig zurück, um einen besseren Blick auf die Theke zu haben. Aufgeregt tippte er Kolm an. Er flüsterte seinem Chef etwas zu und zeigte ihm erst ein Foto auf dem Display seines Handys und deutete dann zum Tresen.

Leise erhoben sich Kolm und Kästing. Als sie die Bar erreichten, sagte Sven-Kevin Thews gerade zum Wirt: „Ich hab einfach mein Handy abgestellt. So können sie mich nicht finden. Klar, morgen melde ich mich bei den Bullen und bin total geschockt. Aber heute will ich erst noch was von dem Stoff verticken. – Was? Was guckst du so komisch?“

Kolm legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Darf ich mich vorstellen: Hauptkommissar Kolm.“ Kästings Hand befand sich auf Sven-Kevins anderer Schulter und gemeinsam mit Kolm drückte er ihn zurück auf den Barhocker.

Kolm rief: „He, Renate. Das ist doch Sven-Kevin, oder? Na also. Kästing, habe ich schon mal meine Theorie erwähnt …“

„Dass der durchschnittliche IQ eines typischen Kriminellen nicht höher ist als seine Schuhgröße?“, unterbrach Kästing seinen Chef. „Ja, so ein- bis zweitausendmal.“

„Also, Sven-Kevin“, Kolm erhöhte den Druck auf die Schulter des Mannes. „Sie haben nicht nur Fisch aus Holland geholt, sondern auch Drogen geschmuggelt. Die Tütchen schön in Alufolie verpackt und unter dem Matjes versteckt. Da haben unsere Drogenhunde natürlich keine Chance.“

„Und als Rudi das gemerkt hat, haben Sie ihn erschlagen“, ergänzte Kästing.

„Da-das war ich nicht.“ Sven-Kevin stotterte vor Aufregung. „Gut, das mit den Drogen stimmt. Ich wollte die Fässchen gerade wegräumen, da habe ich Rudi entdeckt. Aber er war schon tot. Dann kam jemand, ich hab’ mir das Päckchen geschnappt und nichts wie weg.“

„Dumme Ausreden“, fuhr Kästing ihn an.

Aber Kolm widersprach: „Leider nein. Die Spuren am Tatort bestätigen seine Aussage. Die Lake, die von dem Drogenpäckchen auf den Boden getropft ist, und vor allem die Schuhabdrücke, die alle über dem Blut waren. Kein einziger darunter. Das heißt, der Mord ist geschehen, ehe Sven-Kevin den Raum betrat. Nicht wahr, Renate?“

Kolm setzte sich wieder zu der Witwe an den Tisch. Kästing packte Sven-Kevin und folgte seinem Chef. Der fuhr fort: „Als ich dich traf, warst du nicht auf dem Weg zum Geschäft, sondern kamst gerade von dort, nicht wahr?“

Renate Roth seufzte. „Ich habe die Prospekte vom Reisebüro in seinem Schreibtisch gefunden. Und ich dachte tatsächlich, es sollte eine Überraschung zur Silberhochzeit sein. Rudi war manchmal etwas unpraktisch. Deshalb bin ich sicherheitshalber beim Reisebüro vorbeigegangen. Und die Kleine da erzählt mir ganz naiv, dass unter unserem Namen nur eine Reise für eine Person gebucht ist. Eine Weltreise. In zwei Wochen sollte es losgehen. Ich natürlich hin zum Laden und Rudi zur Rede gestellt. Erst hat er rumgedruckst, aber dann hat er gesagt, er wollte aussteigen, die Welt sehen, neu anfangen, ohne mich. Aus und vorbei – und keine Feier zur Silberhochzeit. Wie hätte ich denn dagestanden? Da bin ich ausgerastet und habe mit dem Erstbesten, was ich finden konnte, zugeschlagen – mit dem Feuerlöscher. Rudi fiel, und plötzlich war er tot.“

Sie holte Luft und schaute die beiden Polizisten an – eher ratlos als betroffen.

Nachdem Renate Roth und Sven-Kevin Thews ordnungsgemäß verhaftet worden waren, rieb Hauptkommissar Kolm sich die Hände: „Und wieder ein Fall gelöst.“

Doch dann verdüsterte sich seine Miene: „Bleibt nur eine Frage: Wo bekomme ich von nun an meinen Matjes her?“

Dieser Kurzkrimi ist zuerst in der Anthologie “Matjes – mild bis makaber” (Deich Verlag, Wewelsfleth 2009) erschienen.

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Es ist nicht alles Blut, was glänzt

Ein Anja-Zenk-Kurzkrimi

Vorsichtig öffnete ich die Kühlschranktür auf der Suche nach etwas Essbarem. Es war mitten in der Nacht und stockfinster. Die Tür hakte und ich zog kräftiger. Mit einem Mal sauste ein schwerer Gegenstand haarscharf an meinem Kopf vorbei und zerbrach klirrend auf dem gefliesten Boden. Das, die klebrige Flüssigkeit, die sich über mich ergoss, und mein eigener Schrei brachten mich ein ganz klein wenig aus der Ruhe.

Im schwachen Licht des geöffneten Kühlschranks sah ich auf den weißen Fußbodenfliesen helle Scherben in einer dunkel glänzenden, ins Rötliche spielenden Flüssigkeit. ‚Na prima’, dachte ich, ‚Blut.’ Okay. In Wirklichkeit dachte ich ‚Iiiiiih, Blut!’ Und was waren das für Klumpen in der Lache? Doch hoffentlich nicht Gehirnmasse. Ich war gerade dabei die Grenze zur Hysterie zu überschreiten …

… da hörte ich hinter mir Schritte und sah im Umdrehen eine Gestalt, die mit einer Art Keule in der erhobenen Hand im Türrahmen stand. Ein weiterer Schrei erschien mir angebracht.

Dann ging das Licht an.

„Kind, hast du mich erschreckt“, sagte Tante Wolke und legte ein Nudelholz der Größe XL auf den Küchentisch.

„Gleichfalls“, erwiderte ich und merkte, dass ich am ganzen Körper zitterte. Musste die Kälte sein. Ich schloss die Kühlschranktür und blinzelte, denn die 100 Watt der Küchenlampe und der grell orange-rote Kaftan meiner Großtante blendeten mich.

„Die gute Terrine. Und meine schöne Fliederbeersuppe.“

Der Geschmack der klebrigen Flüssigkeit, die mir aus dem Haar in den Mundwinkel tropfte, war gewöhnungsbedürftig. Moment. Hatte sie gesagt ‚Fliederbeeren’? Hat Flieder Beeren? Und kann man die essen? Ich traute Wolke in diesem Punkt nicht wirklich. Sie war manchmal nicht ganz von dieser Welt und ein ganz klein wenig zerstreut. Ganz bestimmt würde ich kein Pilzgericht essen, für das sie die Zutaten gesammelt hatte. Zum Glück entpuppte sich ‚Flieder’ als norddeutsches Wort für ‚Holunder’. Und die Hirnmasse in der Lache am Boden als Grießklößchen.

Normalerweise bin ich nicht so schreckhaft, möchte ich einflechten. Sonst könnte ich meinen Beruf auch gar nicht ausüben. Aber Wolke und ich hatten uns am Abend zuvor einen Horrorfilm reingezogen. Okay, eigentlich war es nur eine Folge der Krimiserie Psych, die aber eindeutig von Horrorfilmen inspiriert war.

Meine Großtante Waltraud ‚Wolke’ Möller hatte mich zu ein paar erholsamen Tagen auf dem Land eingeladen. Sie hatte mich übers Internet aufgespürt. Wie sonst. Dort hatte sie die neue Website entdeckt, mit der ich Werbung mache.

A bis Z-Detektei

Anja Zenk

Ermittlungen aller Art

So steht es auf meiner Website und auf der Tür meines Büros. Denn ich bin Privatdetektivin. Das fand Tante Wolke „faszinierend“ und deshalb rief sie mich kurzerhand an.

Leider lebt sie nicht als Millionärin in Amerika, sondern als „Künstlerin“, wie sie sagte, in Ostfriesland, und zwar etwas außerhalb eines kleinen Dorfs. März ist eigentlich nicht mein bevorzugter Urlaubsmonat. Aber ehrlich gesagt war ich neugierig auf die kleine Schwester meiner Großmutter, die ich bis dahin noch nie getroffen hatte. Sie war das schwarze Schaf der Familie. Wenn von ihr die Rede war, fielen Wörter wie ausgeflippt, Drogen, Guru und Indien. Ich musste unbedingt mehr über sie erfahren.

Der Name, den sie sich zugelegt hatte, ließ vermuten, dass seine Trägerin ein ganz klein wenig exzentrisch war. Ich meine: Wer nennt sich schon Wolke? Okay, in den USA haben sie eine Menge merkwürdige Namen: Ich sage nur River, also Fluss, Phoenix, der Schauspieler, den vor ein paar Jahren eine Überdosis ins Jenseits befördert hat; und seine Geschwister Regen, Sommer und Freiheit. Sein Bruder Joaquin ist ja recht bekannt. Der hieß eigentlich Leaf (also Blatt), fand das aber wohl nicht so toll.

Als ich zum ersten Mal Tante Wolkes Wohnzimmer betrat, entfuhr es mir spontan: „Alles so schön bunt hier.“

Damit meinte ich nicht nur die knallblauen Fensterrahmen und die signalrote Designer-Couch, sondern vor allem die Stoffreste und Flickendecken in verschiedenen Stadien der Fertigstellung, die sich auf allen nur erdenklichen Flächen ausbreiteten. Meine Tante macht so genannte Quilts, diese amerikanischen Steppdecken, und verdient damit jede Menge Kohle. Doch ich schweife ab.

Am Morgen nach der Horrornacht machte Wolke sich an die Produktion einer neuen Suppe. „Zum Glück habe ich noch ein paar Flaschen selbstgekochten Holunderbeersaft“, sagte sie, wobei sie Holunder besonders betonte und mir zuzwinkerte.

„Ich mag keine dünnen Süppchen“, meinte sie, als sie am Herd stand und großzügig Apfelstückchen und Grießklößchen in den Topf gab. Sie füllte die Suppe in ihre zweitbeste Terrine und dann machten wir uns auf den Weg.

Wolke lebt in einer Art Künstlerkolonie aus drei Häusern, eines davon ein größerer Hof, die aber alle ein gutes Stück voneinander entfernt sind. Erinnerte mich irgendwie an Bullerbü von Astrid Lindgren. Alles sah sehr idyllisch aus. Auf den ersten Blick.

„Was ist denn mit den beiden los? Trauerfall in der Familie?“ Ich zeigte auf zwei ganz in Schwarz gekleidete Gestalten, die gerade mit einem Jagdhund an der Leine in die Auffahrt zu einem recht großen Gehöft einbogen.

„Nein, jedenfalls nicht in letzter Zeit. Obwohl sie den Hof einer Erbschaft verdanken, die Karin vor ein paar Jahren gemacht hat.“ Wolke rief: „Huhu, Karin, Werner.“ Dann senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern: „Schwarz tragen sie, weil sie seriöse Künstler sind. Er ist Maler, sie schreibt Gedichte.“ Sie kicherte nicht ganz altersgemäß. Meiner Großtante fehlte es eindeutig an Ernsthaftigkeit.

Statt einer Begrüßung fragte Werner Wolke von oben herab: „Na, was macht das Kunsthandwerk?“

„Ich kann nicht klagen“, erwiderte meine Tante und lächelte milde.

Karin war sehr groß, sehr schlank, und ihr Alter von 62 Jahren sah man ihr nicht an. Ich hätte sie auf 70 geschätzt, denn die Haut, besonders um Mund und Augen, war ziemlich welk. Vielleicht lag es auch an den nach unten gezogenen Mundwinkeln. Und dass sie ihr kurzes Haar pechschwarz gefärbt hatte, half auch nicht.

Da waren Wolke und ich klar im Vorteil. Dass man sich bei der Haarfarbe nicht auf die Natur verlässt: gebongt. Aber man sollte das Ergebnis der Farbanpassung im Spiegel kontrollieren. Also Wolke war mit ihrem kräftigen Hennarot ein echter Hingucker.

Und was mich betrifft. Ich will ja nicht angeben, aber mein Blond, so wie das von Gwen Stefani, ist ein Kracher. Im Moment ist mein Haar recht kurz, wie von diesem englischen Model, dessen Namen ich nicht schreiben, geschweige denn aussprechen kann. Auch wenn ich nur 1,60 Meter groß bin, so leicht übersieht man mich nicht. Außer ich überwache jemanden. Dann verstecke ich die Haare unter einem Basecap und verzichte auf mein kirschfarbenes Lipgloss. Aber ich schweife ab.

„Jetzt müssen wir aber, sonst wird die Suppe kalt“, erklärte Wolke mit energischer Stimme. „Wir wollen sie mit Peter zusammen essen.“

„Mann, guckt die sauer“, sagte ich im Weitergehen und meinte damit Karin.

„Sie hat Angst, ich könnte mich wieder an Peter ranmachen. Jeden Dienstag und Donnerstag hat sie schlechte Laune. Dann bringe ich Peter nämlich Mittagessen.“ Wolkes Augen blitzten amüsiert. Dann fügte sie hinzu: „Dabei koche ich einfach nicht gerne kleine Portionen. Und er ist ganz witzig.“

Ich konnte meine Neugier nicht bezähmen. „Moment: Wieso hat Karin Angst, du könntest dich wieder an Peter ranmachen? Ist sie denn nicht mit Werner verheiratet? Hast du denn was mit besagtem Peter gehabt?“, fragte ich bibbernd und zog meine Jacke enger um mich.

In Ostfriesland war es eindeutig kälter als in Mannheim. Und windiger. Kein Wunder. Hier gab es nichts als plattes Land, nichts, was den Wind aufgehalten hätte. An der Hauptstraße zum Dorf, die in einiger Entfernung verlief, wuchsen in großem Abstand dünne Bäume, alle ganz schief, so dass sich die vorherrschende Windrichtung leicht erraten ließ. Wer hatte noch geschrieben „Man konnte morgens sehen, wer mittags zum Essen kam“? Keine Ahnung. Aber er hatte an eine übersichtliche Landschaft wie diese gedacht. Die wenigen Büsche auf beiden Seiten des ausgefahrenen Feldwegs, den wir entlang stiefelten, behinderten kaum die Sicht auf die Felder und Wiesen rundum.

„Hier pflücke ich übrigens im Herbst immer die Fliederbeeren.“

Wolke zeigte auf das Gebüsch und plauderte munter weiter. „Peter ist kein echter Maler, eher ein Amateur. Er war Kunstlehrer am Gymnasium in Hamburg. Früher kamen sie nur in den Ferien. Aber seit seiner Pensionierung ist er öfter hier. Er ist Witwer und man munkelt, der Tod von Famke war Selbstmord. Das arme Ding hat Peters ‚Umtriebigkeit’ wohl nicht verkraftet. Sie kam hier aus dem Ort, da hat sie wohl nicht damit gerechnet, dass der Mann, den sie geheiratet hat, versuchen würde, den Rekord von Casanova zu brechen. Muss eine Sucht sein bei ihm. Das würde auch erklären, warum er so wenig wählerisch ist.“

„Das bringt mich zu meiner Frage zurück“, unterbrach ich ihren Redeschwall. „Willst du sagen, Karin und dieser Peter?“ Mann, wie formulierte man das bei Leuten in dem Alter? „Karin und er haben was miteinander? Merkt Werner das denn nicht?“ Wider Willen war ich fasziniert von den Abgründen, die sich da auftaten.

„Schau dich doch um. Hier kann man so was kaum verbergen. Natürlich weiß er das. Und er ist nicht begeistert, das kann ich dir sagen. Aber er hat Karin vor vielen Jahren schließlich vorgeschlagen, dass sie eine offene Ehe führen sollten.“ Ihre Augen blitzten amüsiert, wie so oft, und eine Spur boshaft.

Ich senkte die Stimme. „Und hast du mit diesem Peter etwa auch …?“

„Das war früher“, winkte sie ab. „Ich meine, er ist jetzt mindestens 65 Jahre alt.“

Ich verstand, was sie meinte, und auch wieder nicht. Hier waren doch alle schon in der Treppenlift- und Gebisshaftpulver-Generation. Wenn man es auch Wolke nicht ansieht. Ihr Gesicht ist so gut wie faltenfrei. Hoffentlich habe ich ihre Gene geerbt, obwohl das eine oder andere Kilo über dem Idealgewicht wohl auch nicht schadet. Wo war ich?

Genau: meine Großtante und dieser pensionierte Kunstlehrer. Sie erklärte ungerührt: „Also Männer in dem Alter sind echt nicht mein Fall.“ Sie zwinkerte mir zu. „Tausend Zipperlein und immer dieselben Gesprächsthemen. Ich geh’ lieber hin und wieder zu einer Vernissage in die Großstadt und schau mich dort nach was Jüngerem um.“

Mit ihren sechzig Jahren ist Wolke mehr als doppelt so alt wie ich. Ich machte die international bekannte Halsabschneidegeste und sagte mit Nachdruck: „Wolke? Zu viel Information. Ich sollte das alles gar nicht wissen.“

Zum Glück waren wir vor Peter Wolfs Efeu bewachsenem Häuschen angelangt. Es war, ähnlich wie das von Wolke, eingeschossig und reetgedeckt, allerdings deutlich kleiner.

Kaum hatten wir die Tür erreicht, gab es einen lauten Knall. Wolkes zweitbeste Terrine schwankte bedenklich in ihren Händen und nur meinem beherzten Eingreifen ist es zu verdanken, dass sie ihr nicht gänzlich entglitt.

„Ein Auspuff?“ Wolke schaute sich zögernd um.

„Neee! Es kam von da, würde ich sagen.“ Ich zeigte aufs Haus.

„Peter? Alles in Ordnung?“ Wolke drückte mit dem Ellenbogen die Türklinke herunter und betrat den Flur. „Peter? – Vielleicht ist er in der Wanne ausgerutscht.“

„Um zwölf Uhr mittags?“ fragte ich zweifelnd. Aber sie hatte schon die Tür zu einem winzigen Bad aufgestoßen, das sauber und ordentlich war – und leer.

„Oder ihm ist in der Küche etwas runtergefallen. So was passiert ja manchmal.“ Immer noch ihre – ja, es war mir bewusst – zweitbeste Terrine balancierend, warf sie einen Blick in die kleine Küche und ich tat es ihr nach. Auch die Küche war menschenleer.

Blieb nur noch die Tür am Ende des kleinen Flurs, genau gegenüber dem Hauseingang. Wie sich herausstellte, führte sie in einen großen Raum, der als Schlaf-, Wohn- und Arbeitszimmer diente, und unter anderem ein Bett, einen Schreibtisch und eine Staffelei enthielt.

Mein Blick wurde jedoch magisch von etwas angezogen, das sich teils neben, teils anscheinend hinter dem Schreibtisch ausbreitete.

Um Yogi Berra, den großen Weisen und Baseballspieler bei den New York Yankees, zu zitieren: „It was déjà vu all over again.“ Vom ihm stammt übrigens auch der Rat, keine anonymen Briefe zu beantworten. Aber ich schweife ab. Was ich sah, war eine dunkelrote, mit Bröckchen durchsetzte Lache.

Ich ging darauf zu und mein Blick glitt nach rechts. Hinter dem Schreibtisch lag ein Mann. Er hatte sich das Gehirn rausgepustet, wie man so schön sagt. Echt krass. Und das meine ich nicht positiv. Ich unterdrückte mit aller Gewalt einen Schrei – und das Frühstück, das den Weg zurück nach oben nahm.

Da krachte und klirrte es direkt hinter mir. Ich machte einen Satz und wäre beinahe in die Blutlache getreten.

„Scheiße“, entwich es dem Mund meiner Tante.

Das Schicksal hatte erneut zugeschlagen und jetzt auch ihre zweitbeste Terrine erwischt. Als Wolke den toten Peter erblickte, wollte sie das Teil abstellen, verfehlte aber den Schreibtisch, weil sie weiter gebannt – und schockiert, möchte ich hoffen – auf die Leiche starrte.

Ich verglich gerade die Farbgebung und Struktur der beiden Lachen, die nun den Fußboden verunzierten, als im Flur ein schmächtiger Mann in Briefträgeruniform auftauchte und zögernd fragte: „Wolke? Ist etwas passiert?“

Das riss sie aus ihrer Erstarrung.

„Ole, ich, also ich glaube, nein, ich kann es gar nicht glauben, aber es sieht so aus, als ob Peter sich umgebracht hat.“

Ole, der Briefträger, schüttelte den Kopf, hin und her, hin und her. „Wie furchtbar. Schrecklich. Wie ist es nur möglich? Wie hat er sich …?“

Da konnte ich ihm weiterhelfen und tat es. „Erschossen. Neben seiner rechten Hand liegt eine Pistole. Ziemlich altmodisches Teil.“

„Ogottogott. Nein, warum nur? Wie schrecklich. Wie furchtbar.“ Und ab da begann Ole sich zu wiederholen.

Wolke ging zu ihm und legte ihm ihren Arm um die Schulter. „Mensch, Ole, beruhige dich. Du redest ja wie ein Wasserfall. Muss der Schock sein“, sagte sie zu mir. „Sonst ist er eher der schweigsame Typ.“

Sie führte ihn vor die Tür und ich hörte sie sagen: „Nimm mal dein Handy und ruf die Polizei. Dann brauchen wir drinnen nichts anzufassen.“

Alle Achtung. Gut gedacht für jemanden, der nicht vom Fach ist.

Ich ging umher und ließ meine Blicke schweifen. Die Fenster des Raums waren bis auf eines, das gekippt war, geschlossen. Auch die in Küche und Bad waren zu. Zur Haustür war niemand herausspaziert, das hätten wir gesehen.

Am Abend dieses ereignisreichen Tages bequatschten Wolke und ich alles bei einem Glas Rotwein, also für jede ein Glas, nicht eins für uns zusammen.

„Wenn es sich nicht um ein Rätsel eines verschlossenen Raums handelt“, begann ich …

„… oder eines verschlossenen Hauses“, warf Wolke ein.

„Genau. Also um ein Problem, wie man es aus der Fachliteratur kennt …“ Ich dachte da an diverse Krimis.

„Dann“, ergänzte Wolke, „muss es Selbstmord sein.“

Ich nickte. „Unfall kann man wohl ausschließen. Wenn ich die Fragen des Kommissars richtig deute, sieht die Polizei das genauso.“

„Aber warum? Es passt überhaupt nicht zu Peter. Famke, das hat niemanden erstaunt. Aber Peter? Der war doch viel zu selbstverliebt.“

Am nächsten Morgen fuhren zwei Polizeiwagen am Haus vorbei. Die Beamten waren wohl mit den Ermittlungen noch nicht fertig.

Wolke und ich saßen warm eingemummelt auf einer Bank im Freien. Es war Wolkes Lieblingsplatz, seitlich neben ihrem Haus, direkt an einem kleinen Teich. Vor uns auf dem hölzernen Tisch stand ein Tablett mit Kaffeegeschirr und daneben lag mein Elektroschockgerät, denn Wolke hatte Interesse an dieser modernen, platzsparenden Alternative zum Nudelholz geäußert und ich hatte ihr gezeigt, wie es funktioniert.

Jetzt saßen wir einträchtig nebeneinander und blinzelten in die Sonne. Wolke schüttelte den Kopf.

„Peter hat sich nicht umgebracht. Das passt vorne und hinten nicht. Du bist doch Detektivin, streng mal deine grauen Gehirnzellen an.“

Das tat ich. War das Motiv Eifersucht? Da kämen sowohl Werner als auch Karin infrage. Aber das Problem war das Wie. Wie war es möglich, Peter sozusagen vor unserer Nase zu erschießen und sich dann in Luft aufzulösen?

Also: Wenn man das Unmögliche strich, wie Sherlock Holmes empfahl, was blieb dann? Es war niemand im Haus. Ich überlegte laut: „Dann hat draußen jemand geschossen.“

„Aber die Fenster waren unversehrt. Da ist die Kugel nicht durchgekommen“, meldete sich Tante Wolke zu Wort.

Richtig. Außerdem wurde Peter aus nächster Nähe erschossen. Das hatte der Kommissar gesagt. Ich ließ die Geschehnisse vor und nach dem Schuss vor meinem inneren Auge ablaufen. Dann fiel es mir wie Schuppen aus den Haaren. Natürlich!

Wolke stieß mich an. „Schau mal, da kommt Ole Hansen. Huhu, Ole. Wir sind hier hinten.“

Ole stellte sein gelbes Fahrrad an der Straße ab, ging auf dem Kiesweg um das Haus herum und überreichte Wolke zwei kleine Briefe und einen großen Umschlag.

Sie strahlte: „Das sind die Stoffmuster.“ Sie legte die kleinen Briefe auf den Tisch neben den Elektroschocker und riss den großen auf.

Ole wandte sich zum Gehen, aber ich musste noch eine Frage loswerden.

„Sagen Sie, Herr Hansen, sind Sie irgendwie mit der Frau von Peter Wolf verwandt? Wie hieß sie noch?“

Wolke ließ ihn nicht zu Wort kommen, sondern sprudelte los: „Famke. Klar, sie ist seine Schwester. Stammt hier aus dem Ort. Habe ich dir doch erzählt.“

Auf Hansens Gesicht blitzte kurz Wut auf, dann war es wieder ausdruckslos. Er nickte abwartend.

„Famke Hansen“, sagte ich nachdenklich. Hieß so nicht diese Schauspielerin aus den X-Men-Filmen? Oder war es Jansen? Nein, genau: Famke Janssen. Aber jetzt war nicht die Zeit, um abzuschweifen.

„Na, dann hatten Sie ja ein erstklassiges Motiv für den Mord. Weil Peter Wolf Ihre Schwester in den Tod getrieben hat mit seinen vielen Affären.“

„Aber wie soll er ihn denn erschossen haben?“ Wolkes Miene verriet Ratlosigkeit, die von Hansen wenig, vielleicht eine Spur von Trotz.

„Gut, dass du fragst. Jeder wusste, dass du Peter dienstags und donnerstags Mittagessen gebracht hast. Ole“, ich war es leid ihn zu siezen, „also Ole hier hat Peter kurz vor unserer Ankunft erschossen und die Waffe dort liegen lassen. Wenn er schlau war, hat er noch Peters Fingerabdrücke angebracht. Wobei, wenn es keine Schmauchspuren gibt an Peters Hand … Vielleicht ist die Polizei deshalb mit ihren Befragungen nicht fertig, weil sie keine Rückstände gefunden haben und jetzt auch an Mord denken.“

„Aber das ist nicht unser Problem“, fuhr ich fort. „Jedenfalls hat Ole sich samt seinem Fahrrad hinter dem Haus versteckt. Da ist eine Hecke, wenn ich mich recht erinnere. Er hat auf uns gewartet und mit einer zweiten Waffe einen Schuss abgegeben. Wir haben natürlich gedacht, der Schuss wurde im Haus abgefeuert, schließlich lag dort der tote Peter. Ganz schön clever.“

Ich wandte mich direkt an Ole. „Und weil Sie nicht riskieren konnten, dass wir sehen, wie Sie mit Ihrem Rad vom Haus wegfahren – die Gegend ist ja ziemlich übersichtlich –, haben Sie so getan, als wären Sie gerade angekommen.“

Ich nickte zufrieden. Es passte alles.

Oles Blicke schweiften nervös hin und her. Suchte er nach einem Ausweg?

„Wolke, du holst jetzt am besten die Polizei. Die müssen hier irgendwo in der Nähe sein.“

Ich packte Ole am Arm. Was konnte schon passieren? Er war kaum größer als ich. Ich merkte schnell, was passierte. Mit mehr Kraft, als ich ihm zugetraute hatte, riss er seinen Arm erst in die eine Richtung, so dass ich den Halt verlor, und stieß mich dann in die andere Richtung. Dort senkte sich der Boden zum Teich hin und ich fiel und rutschte – erraten – in eben diesen Teich hinein. Dessen Wasser von einer erstaunlichen, ich möchte fast sagen: eisigen, Kälte war.

Triefend und fluchend rappelte ich mich auf und sah gerade noch, wie Wolke sich den Elektroschocker schnappte und ZAPP! 750.000 Volt durch Oles Körper schickte. Danach lag er ganz ruhig im Gras, bis zwei Polizisten ihn einsammelten.

In Ole Hansens Wohnung fanden die Beamten eine Schreckschusswaffe. Ein alter Nachbar erinnerte sich außerdem, dass ihm der Vater von Ole und Famke einmal eine alte Wehrmachtspistole gezeigt hatte. Schließlich legte Ole ein Geständnis ab. „Was für einen Sinn hat Rache auch, wenn niemand davon weiß?“ soll er gesagt haben.

Nach meinem Tauchbad im eiskalten Teichwasser lag ich am nächsten Tag im Bett. Nein, nicht mit Orlando Bloom in seiner blonden Phase – das wäre mir lieber gewesen –, sondern mit einer dicken Erkältung.

„Holunder tut Wunder“, sagte Wolke und reichte mir einen Teller ihrer legendären Fliederbeersuppe.

Die schmeckte gar nicht schlecht – und irgendwie exotisch, denn Wolke kochte immer ein Stück Ingwer mit. Nach dem ersten Löffel aß ich die Suppe allerdings mit geschlossen Augen.

„So kann ich den Geschmack besser würdigen“, murmelte ich. In Wirklichkeit weckte der Anblick der violett glänzenden Flüssigkeit mit den Grießklößchen darin zu viele unangenehme Erinnerungen.

Dieser Kurzkrimi ist zuerst in der Anthologie “Friesisches Mordkompott. Süßer Nachschlag” (Leda, Leer 2010) erschienen.

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